Montag, 17. September 2012

Qualitätsmedien oder Hofberichterstattung

Tatarenjournalismus
Medien und der Krieg in Syrien
Der Begriff »Tatarenmeldung« soll auf den britischen Journalisten William Howard Russell zurückgehen, der für die Londoner Times über den Krimkrieg 1853 bis 1856 berichtete. In Ermangelung geeigneter Stoffe erfand er einen »tatarischen Kurier«, der die Botschaft von der Erstürmung der Festung Sewastopol durch britische und französische Truppen bei sich getragen habe. Die Times war übrigens zunächst gegen den Krieg, später dafür. Historiker erklären das mit wirtschaftlichen Gründen: Russell berichtete erstmals in der Geschichte direkt aus dem Kriegsgebiet. Das ließ die Auflage steigen.
In den Kolonial- und Ordnungskriegen des Westens seit dem Ende der Sowjetunion sind die hiesigen Medien dorthin zurückgekehrt, wo sie vor Russell waren: Sie fungieren als Sprachrohre. Im ersten Golfkrieg 1991 und bei der Zerschlagung Jugoslawiens produzierten PR-Agenturen die nötigen Bilder: Irakische Babymörder in Kuwait und serbische Konzentrationslager. Die Produzenten bekannten sich später stolz zu ihren Fälschungen. Im illegalen NATO-Luftkrieg von 1999 übernahmen die angeschlossenen Medien die Kriegshetze des Pressesprechers der Allianz, Jamie Shea, eins zu eins. Er schenkte ihnen aus dem Wörterbuch des Unmenschen die Vokabel »Kollateralschaden«. Das Wort machte beim Krieg in Afghanistan ab 2001 weiter Karriere, wird heute aber vermieden, wenn wie am Sonntag Frauen beim Holzsammeln abgeknallt werden. Man konzentriert sich auf Truppenbetreuung: Der Komiker Kurt Krömer blödelt für die ARD mit Landsern in Kabul, der ehemalige DDR-Journalist Alexander Osang beschreibt im Spiegel mitfühlend die Vorbereitung von Bundeswehroffizieren auf den Einsatz. Hauptpunkt: Ein Meditationskurs mit einer Esoterikerin zu »Erdverbundenheit« etc. Im Irak-Krieg 2003 ernannte die US-Armee zugelassene Berichterstatter kurzerhand zu »embedded journalists«. ["eingebettete Journalisten" - Luzi]
Die Auflagen sind nicht gestiegen, denn die »neuen« Kriege bleiben hier wie bei den »Befreiten« unpopulär. Der Krieg in Syrien, dessen Lunte im Land gelegt, der aber vom Westen und verbündeten Demokratiexporteuren wie Katar und Saudi-Arabien in Gang gehalten wird, ist ein Musterfall. Am Sonntag berichtete dapd: Die Türkei wolle bis zu 40000 syrische Flüchtlinge, die vor allem in der 200000-Einwohner-Stadt Antakya lebten, umsiedeln, es gebe »religiöse Spannungen«. Tatsache ist: Die Mehrheit in Antakya sympathisiert mit dem syrischen Präsidenten und ging deswegen kürzlich auf die Straße. Wo so etwas geschieht, hält der Spiegel, das Flaggschiff deutscher Kriegshetze, dagegen. Er meldet in seiner neuen Ausgabe: »Die syrische Armee soll Ende August Trägersysteme für Giftgasgranaten getestet haben.« Aus der Nicht-Information machen die Hamburger mehr als eine halbe Seite. Von Tatarenmeldungen zum Tatarenjournalismus.
(c) Arnold Schölzel (jW)

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